Hier keine Tabelle
Eines vorweg: Drehmomenttabellen ohne Reibwert-Angaben taugen nichts. Genau, ja, richtig gelesen: Tabellen, die nicht definieren, wie die Schraube oder Unterlegscheibe eingedreht wird, sind unbrauchbar. Sie taugen nix, wurden irgendwo abgeschrieben und sind wertloser Quark. Ganz einfach deshalb, weil bis zu 90% des Drehmoments beim Anziehen der Schraube durch Reibung flöten geht. Jaucht man eine vormals trockene Schraube mit Motoröl ein, so ergibt das bei ansonsten gleichem Drehmoment IMMER eine andere Klemmkraft.
Warum fliegen in den Tiefen des Internets dann immer noch Tabellen herum, die Drehmomente für M10 angeben, ohne Rücksicht auf die Beschaffenheit der Reib-Parameter zu nehmen? Warum existieren trotzdem Tabellen, die möglicherweise nicht mal zwischen 8.8 – und 10.9 – Schrauben unterscheiden? Ganz einfach: Weil der werbetreibende Influencer zwar wunderbar-schicke Webseiten hochziehen kann, aber keinen blanken Schimmer vom Schrauben oder gar vom Maschinenbau hat. Diese Marionette des Kapitalismus ist froh, ein wenig ChatGPT-Content zum Thema Drehmoment zusammenzukratzen und lauert dann auf Affiliate-Klicks.
Selbstverständlich lauern auch wir auf Klicks: Allerdings haben wir uns geschätzte 4 Minuten mit dem Thema beschäftigt. Und deswegen hier unser bescheidener Versuch, das Wissen zum Thema kondensiert aufzuschreiben. (Die Artikelreihe zum Thema Drehmoment gefällt? Gerne mal schauen, was sich hinter den Werbebannern verbirgt oder über unsere Affiliate-Links irgendwas beim Ami bestellen, harhar!)
Drehmoment-Parameter
Wer sich ernsthaft mit dem Thema drehmomentgesteuertes Anziehen von Schrauben beschäftigt, muss folgende Parameter einer Schraubenverbindung im Blick behalten:
1. Die Beschaffenheit der aufeinander gleitenden Flächen.
Das sind natürlich das Gewinde, der Schraubenkopf und die Unterlegscheiben. Die können unterschiedlich hart und unterschiedlich rau sein und haben möglicherweise ganz unterschiedliche Geometrien. Das mit der Härte hatten wir eben: Es gibt knüppelharten und zähen Stahl (12.9) oder echte Weichlinge (4.6). Gewinde können geschnitten, gewalzt oder gerollt sein und haben dann unter der Lupe eine glatte oder raue Oberfläche. Vor allem aber kann der Schraubenkopp plan mit einer Ringfläche auf dem Werkstück aufliegen (Sechskantschrauben mit Schaft, ISO4014) oder z.B. mit einer balligen Fläche (Radschrauben mit Kugelbund) – die Reibfläche ist damit deutlich anders.
2. Die Werkstoffe und deren Oberfläche.
Die Schrauben können blank und trocken im Karton liegen, kadmiert, phosphatiert, lackiert oder brüniert. Muttern können verzinkt, chromatiert oder in Blätterteig ausgebacken sein. Das alles beeinflusst die Reibung im Gewinde und unter dem Bund. Ist die Schraubverbindung schonmal bewegt worden, ist die Beschichtung möglicherweise abgerieben / abgenutzt. In so einem Fall verändern sich alle Parameter nochmal.
3. Der Schmierzustand.
Alle eben genannten Geometrien und Oberflächen können trocken, mit dünnem oder dickem Öl eingejaucht, mit Molybdän-Schmiere gefettet oder mit Schraubenfest-Klebstoff eingeschmiert sein. Neben der Größe der reibenden Oberflächen hat der Schmierzustand den größten Einfluss – hier sollte man in der Werkstatt wirklich drauf achten.
4. Die Montage
Schrauben und Muttern kann man langsam oder schnell anziehen. Oder ruckweise langsam oder schnell oder mit einem Schlagschrauber. Wir hatten das Thema „Ruckgleiten“ schonmal und schließen das deswegen jetzt aus. Allerdings ist auch die Zahl der „Anziehstufen“ von Bedeutung: Es macht einen Unterschied, ob man 200 Nm in einem Hieb anzieht oder in drei Stufen hintereinander.
Letzte Aktualisierung am 5.04.2024 / Affiliate Links / Bilder von der Amazon Product Advertising API
Drehmoment in der Praxis
In der gelebten Praxis ist das Thema „drehmomentgesteuertes Anziehen von Schraubverbindungen“ deshalb delikat. Und vor allem niemals theoretisch mit einer simplen Formel in den Griff zu kriegen. Brauchbare Tabellen erhält man nur und ausschließlich durch endlose Versuchsreihen – erzeugt von Praktikanten oder Werkstudenten, die große Mengen von Schrauben mit unterschiedlichen Oberflächen und Schmierstoffen auf unterschiedliche Arten anziehen und dann die Klemmkräfte aufnehmen.
Unschwer zu erraten, dass der Influencer alles lieber macht als solche Mühen auf sich zu nehmen. Schlimmer noch: Er weiß nicht mal, dass sich eine geölte Schraube völlig anders verhält als ein knochentrockenes Exemplar.
Wir neigen deswegen demütig unser Haupt vor Leuten, die sich ernsthaft mit dem Thema beschäftigen. Das sind zum Beispiel Schraubenhersteller oder Ingenieurbüros. Die verbreiten ihr Wissen mitunter im Internet und sind qua Expertise eine brauchbare Quelle. Und selbst bei diesen Experten unterscheiden sich die Ergebnisse bei ein-und-demselben Input in den Drehmoment-Rechner: Eine irgendwo abgeschriebene Tabelle ist dagegen also ungefähr so wertvoll wie der Hinweis „Alle Schraubverbindungen handwarm anziehen“.
Links zum Thema
Ein schöner Rechner vom Schweizer Schraubenhersteller Bossard
Ein eher simpler Rechner, der auch die Zugspannung in der Verbindung zeigt, bietet der Sensorhersteller FUTEK
Akademisch, sehr genau, jedoch umständlich zu bedienen: Rechner der TU Delft
Einfacher Rechner von Omnicalc, der drastisch zeigt, wie sich die Klemmkraft bei Schmierung ändert
Noch tiefer ins Thema gehts in einem kurzen Abriss der Experten von DEPRAG